Konservative Stadtkritik Seitdem im Jahr 1965 Alexander Mitscherlich
sein Pamphlet gegen "Die Unwirt- lichkeit un serer Stiidte"
veroffentlichte, ist die Reihe der Titel, die sich - kri- tisch oder
klagend - mit der Stadt beschiiftigen, nicht abgerissen. "Die Krise der
Stadt", "Das programmierte Chaos", "Sind unsere Stiidte noch zu retten?
" - wer sich aus historischer Perspektive mit dem Bild der Stadt in der
zeitgenos- sischen Literatur und Nicht-Literatur beschiiftigte, der mii
te zu dem Schlu kommen, im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts
sei eine Lebensform, die das Geschick der Menschheit iiber Jahrtausende
hinweg gepriigt hat, endgiiltig zusammengebrochen - oder jedenfalls in
tOdliche Gefahr geraten. Wiirde er die Perspektive noch etwas weiter
ausdehnen, etwa ins neunzehnte und achtzehnte Jahrhundert hinein, so
kiimen ihm allerdings Zweifel. "Es sind die Stiidte und insbesondere die
Hauptstiidte, wo die Sitten verfallen und das Menschenge- schlecht
zugrunde geht" - so steht es bereits urn das Jahr 1760 in der Gro en
Encyclopiidie. "Europa wird krank an der Gro e seiner S tiidte", schrieb
1851 Wilhelm Heinrich Riehl. "Das Rad des Schicksals rollt dem Ende zu;
die Geburt der Stadt zieht ihren Tod nach sich" 1923 Oswald Spengler.
Derweil erlebten die Stiidte das gewaltigste Wachstum ihrer Geschichte,
produzierten sie in unerhorter Menge und Geschwindigkeit das, was auch
auf lange Sicht und bei distanzierter Betrachtung als
technisch-zivilisatorischer Fortschritt zu werten sein wird, waren sie
es, in denen die revolutioniiren Umbriiche im Denken der Zeit -Marx,
Freud, Einstein - entstanden und weitergedacht wurden.