Hans Bertram Soziologie und Sozialwissenschaften stehen in modernen
Gesellschaften im- mer in einem spezifischen Spannungsverhaltnis zur
Politik, Wirtschaft und Kultur. Da sich beide Disziplinen - ebenso wie
jede andere Wissenschaf- darum bemtihen, bestimmte soziale Phanomene zu
verstehen, zu deuten und auf der Basis empirischer Daten zu erklaren,
konnen die Forscher nie aus- schlieBen, daB ihre Ergebnisse unmittelbare
Bedeutung fUr Politik, Wirt- schaft und die kulturelle Entwicklung
erlangen. Der Politikwissenschaftler beispielsweise, der die
Einstellungen der Be- volkerungen zu den Institutionen einer
Gesellschaft untersucht, macht auch bei noch so wertneutraler
Formulierung seiner Forschungsergebnisse zu- gleich eine Aussage tiber
die jeweilige politische Entwicklung und gibt ihr eine spezifische
Deutung. Nicht anders verfahrt ein Jugendforscher, der die Einstellungen
und Orientierungen Jugendlicher zu Ehe und Familie unter- sucht, denn
auch so1che Einstellungen sagen natiirlich etwas tiber den gesell-
schaftlichen Stell en wert bestimmter Formen der privaten LebensfUhrung
in einer Gesellschaft aus. In offenen und plural en Gesellschaften ist
es fUr die Sozialwissenschaft- ler in der Regel kein Problem, mit dieser
sachbedingten Reichweite und Kri- tiknahe ihrer Resultate umzugehen,
weil Forschungsergebnisse oder wissen- schaftliche Diskurse, die eine
Kritik bestimmter Zustande implizieren, als notwendiger Bestandteil
politi scher Prozesse begriffen werden.