Ein Vierteljahrhundert nach der Auflosung der Sowjetunion ist Russland
wieder ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit geruckt. Das gegenwartige
Verhalten des Landes empfinden viele als ratselhaft, wenn nicht gar als
bedrohlich. Vittorio Hosle geht in drei Kapiteln auf Kontinuitaten
zwischen dem vorsowjetischen Russland, der durch die bolschewistische
Revolution von 1917 geschaffenen Sowjetunion und dem postsowjetischen
Streben nach einer neuen Rolle in der Welt ein. Was seine Essays
auszeichnet ist der Versuch, die russische und sowjetische Kultur in
verschiedenen Facetten auszuleuchten: Die russische Literatur, ohne
Zweifel einer der grossartigsten und komplexesten Beitrage zur
Weltliteratur, und der sowjetische Film, dessen ausserordentliche
asthetische Qualitat den Enthusiasmus fur den erhofften
weltgeschichtlichen Neubeginn ausdruckt, werden ebenso erortert wie
entscheidende sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche
Veranderungen im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig wird eine
geschichtsphilosophische Einordnung der sowjetischen Revolution
versucht, die markant abweicht von deren Selbstinterpretation im Rahmen
der marxistischen Geschichtsphilosophie: Der sowjetische Kommunismus war
ein Versuch, in einem wirtschaftlich und politisch ruckstandigen Land
die Industrialisierung nachzuholen und es gleichzeitig mit dem Gefuhl zu
beseelen, die Avantgarde der Welt zu sein. Das abschliessende Kapitel
uber Russlands gegenwartiges Machtstreben diskutiert schonungslos die
Gefahren, die der durch eine nationale Demutigung gespeiste
revanchistische Nationalismus und die neue Monokratie Wladimir Putins
fur den Frieden in Europa darstellen.