Diese Arbeit ist aus dem praktischen Bediirfnis entstanden, fiir die
entschadi- gungsrechtliche Begutachtung von iiberlebenden Opfern der
nationalsozialisti- schen Verfolgung mit seelisch-nervosen Storungen
verlaBliche Grundlagen zu finden. Seit etwa 1950 und in stets steigendem
AusmaB seit dem ErlaB des Bundes- entschadigungsgesetzes in seiner
jetzigenForm (1956) tritt die Frage an den psychi-
atrisch-neurologischen Gutachter heran, ob, in welch em Umfang und in
welcher Weise psychisch-nervose Normabweichungen und Krankheitszustande
bei Ver- folgten des NS-Regimes mit den seinerzeit innerhalb und
auBerhalb der Konzen- trationslager erlittenen Beeintrachtigungen der
seelischen und korperlichen Inte- gritat zusammenhangen. Dabei wurde es
immer deutlicher, daB die in der neuro- psychiatrischen Wissenschaft
bisher erarbeiteten BeurteilungsmaBstabe und gut- achtlichen Richtlinien
nicht voll ausreichen, um die Entstehungsweise und Trag- weite der in
diesem Fachgebiet liegenden Gesundheitsschaden der Verfolgten zu
erfassen. Es war hier etwas Neues in Erscheinung getreten: chronische,
auBerst hartnackige, therapeutisch wenig beeinfluBbare Beschwerden,
Leistungsmangel, Veranderungen der sozialen Personlichkeit, die sich bei
fehlendem oder gering ausgepragtem Organbefund, hirnpathologisch nicht
erklarbar, in biographischer Kontinuitat aus den furchtbaren,
leiblich-seelisch-sozialen Schicksalen der Ver- fQIgung entwickelt haben
und nur in den wenigsten Fallen den Eindruck einer tendenziosen,
rentenneurotischen, iibertreibenden, ganz oder halbwegs gewollten
Fehleinstellung hinterlassen. Nicht schlechthin, aber relativ neu: das
chronische, meist in diesel' oder jener Weise depressiv gefarbte
Storungsbild derartiger FaIle, die Herkunft aus einer extremen
Belastungssituation, die durch ihre lange Dauer, ehr noch durch ihre
aIle menschlichen Daseinsbereiche einschlieBende Totalitat !l n Menschen
aller Existenzsicherheit_ beraubte, neu aber auch die Notwendig.