Nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl fur Reformierte Theologie der
Universitat Gottingen (1921) widmete Barth die erste grosse Vorlesung
der Darstellung der Theologie Calvins. Der Hauptteil der Vorlesung
besteht aus einer zum grossen Teil aus Primarquellen gewonnenen
minutiosen Nachzeichnung von Calvins Leben. Darin eingeflochten sind
eingehende Interpretationen seiner Schriften in der Reihenfolge ihres
Entstehens. Infolge ihrer Breite bricht die Darstellung bereits im Jahr
1538 ab. Ihr entscheidendes Geprage empfangt die Vorlesung durch einen
tiefschurfenden, wohldokumentierten Vorbau, in welchem Barth
eigenstandige Gedanken uber die theologische Bedeutung der Geschichte
entwickelt. Wenn Gotteserkenntnis in der Reformation als ein jah
auftauchendes Neues und ganz Anderes verstanden wird, wie verhalt sie
sich zur Relativitat der Geschichte? Das ist die Denkaufgabe, der sich
Barth - im Anschluss an die Auslegung des Romerbriefs - stellt. In einem
ersten Durchgang wird die Reformation sowohl gegen das Mittelalter wie
auch gegen die Neuzeit abgehoben im Bild der Vertikale, die senkrecht
auf die Horizontale menschlichen Denkens und Tuns trifft. Der zweite
Durchgang zeigt den Unterschied zwischen der Reformation erster Wendung
(Luther) und derjenigen zweiter Wendung (Zwingli, Calvin): die
geschichtliche Aufgabe der letzteren ist die Auseinandersetzung mit dem
Mittelalter-Neuzeit-Problem der Ethik, das bei Luther gleichsam fur eine
Sekunde zwischen den Zeiten suspendiert erscheint. Diese weite
Perspektive verleiht dem Text eine Spannkraft, die auch dort nie
nachlasst, wo Barth Calvins Leben in liebevoller Kleinmalerei vor uns
ausbreitet und seinen Gedankengangen bis in feinste Verastelungen folgt.
Hans Scholl, Jahrgang 1931, war bis 1979 Pfarrer im Bernischen Seeland,
danach Professor fur Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule
Wuppertal. Karl Barth (1886-1968) studierte Theologie in Bern, Berlin,
Tubingen, Marburg und war von 1909 bis 1921 Pfarrer in Genf und
Safenwil. Mit seiner Auslegung des Romerbriefes (1919, 1922) begann eine
neue Epoche der evangelischen Theologie. Dieses radikale Buch trug ihm
einen Ruf als Honorarprofessor nach Gottingen ein, spater wurde er
Ordinarius in Munster und Bonn. Er war Mitherausgeber von Zwischen den
Zeiten (1923-1933), der Zeitschrift der Dialektischen Theologie. Karl
Barth war der Autor der Barmer Theologischen Erklarung und Kopf des
Widerstands gegen die Gleichschaltung der Kirchen durch den
Nationalsozialismus. 1935 wurde Barth von der Bonner Universitat wegen
Verweigerung des bedingungslosen Fuhrereids entlassen. Er bekam sofort
eine Professur in Basel, blieb aber mit der Bekennenden Kirche in enger
Verbindung. Sein Hauptwerk, Die Kirchliche Dogmatik, ist die
bedeutendste systematisch-theologische Leistung des 20. Jahrhunderts.