Das Werk Gottfried Benns scheint auf eine neue Lesergeneration eine
gewisse Faszination auszuüben. Die Parolen der Zeit lassen sich wieder
einmal durch sein Werk bestätigen. Daß es - wie schon in den fünfziger
und späten sechziger Jahren - Widerstände geben kann und muß, ist
verständlich. Ob die neue Rezeptionswelle aber die Konturen von Benns
Werk anders auffassen wird als frühere, sollte uns beschäftigen. Diese
Untersuchung will-anders als die meiste Forschung bisher - Gott- fried
Benns Werk als Gesamtwerk ernst nehmen, das heißt: Lyrik, Kunstprosa und
Essayistik im (nicht nur chronologischen) Zusammenhang diskutieren. Ihr
zentrales Interesse gilt noch den Gedichten; insofern bildet das Lyrik-
Kapitel den Hauptteil des Buches. Es versucht eine grundsätzliche These
zu entwickeln und zu belegen: die These nämlich, daß das Werk Benns kei-
neswegs ab ovo entstanden ist, sondern als sehr bewußte Verarbeitung,
Ver- fremdung - und insofern Weiterführung - einer bestimmten
Traditionslinie anzusehen ist. Hieraus ergibt sich als Arbeitsprinzip
nicht nur für die frühen Gedichte eine Lektüre 'gegen den Strich',
sondern eine generelle Revision der Entwicklungslinie, in der Benns
Lyrik zu sehen ist. Die Gedichte der zwanzi- ger Jahre sollen hier nicht
wie schon so oft als 'Neuer Klassizismus' gefeiert, sondern als
Fortführung der frühen Gedichtsammlungen - wenn auch unter verändertem,
ja verkehrtem lyrischen Vorzeichen - interpretiert werden.