"Die Wahrheit ist eine schlüpfrige Angelegenheit. Vielleicht begreifen
sie deshalb nur Menschen mit literarischem Verstand." Staatsanwalt Reed
Amhurst in "Gefährliche Praxis" von Amanda Cross 1 Dieses Zitat, das ich
meiner Arbeit als Motto voranstelle, entstammt einem Kriminalroman. Es
paßt auf zwiefache Weise zu dem Arbeitsansatz, der meinem Denken und
Schreiben zugrunde liegt. Zum einen im inhaltlichen Sinne: ich stimme
unbedingt mit dem fiktiven Staatsanwalt darin überein, daß Menschen mit
literarischem Verstand die Wahrheit besser begreifen als abstrakt-
wissenschaftliche Denker, denn ihr Wahrheitsbegriffist umfassender, weil
er auch Ungreifba- res, Ungenaues, Widersprüchliches, Stimmungshaftes -
kurzgesagt: menschliche Lebendig- keit impliziert. Deshalb sind für mich
Werke der Belletristik von ebenso hohem Erkenntnis- wert für das
Verständnis einer historischen Epoche wie Werke der historischen Wissen-
schaften. Das zweite, worauf die Auswahl des obigen Mottos hinweist: es
ist nicht nur die "große" Literatur, der ich diese Qualität der
historischen Erkenntnisvermittlung zuschreibe; ich plädie- re unbedingt
daflir, daß auch die Literatur, die man eher der Unterhaltungssparte
zurechnen würde, von hohem historischen Erkenntniswert sein kann. Sie
mag weniger allgemeingültige Ewigkeitswerte enthalten, sie mag von
geringerer sprachlich-künstlerischer Individualität sein, sie mag uns in
ihren Standpunkten wie auch in ihrer Diktion trivial, klischeehaft und
wenig origineli erscheinen: all dies tut ihrem Wert als Zeitspiegel
keinen Abbruch. Selbst in der verlogenen, harmonisierenden Schönfärberei
ist "Zeitgeist" enthalten, und dem Alltags- denken einer Epoche kommen
wir im trivialen Unterhaltungsroman vielleicht eher auf die Spur als im
Kunstwerk des Genies.