Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemüt
der Menschen bewegt," das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf
den Verstand so an- regend und fruchtbar gewirkt," das Unendliche ist
aber auch wie kein anderer Begriff so der Aufklärung bedürftig. HILBERT
[226, p. 163] Etwas mehr als 100 Jahre sind vergangen, seit in den
Mathemati- schen Annalen der sechste und letzte Teil von CANTORS
fundamenta- ler Arbeit Über unendliche lineare Punktmannichfaltigkeiten
erschie- nen ist. Damit war die Mengenlehre geboren und mit ihr eine
prinzipiell neue Auffassung des Unendlichen in der Mathematik,
verkörpert in CANTORS Theorie der transfiniten Zahlen. Diese Theo- rie
hat HILBERT als «die bewundernswerteste Blüte mathematischen Geistes und
überhaupt eine der höchsten Leistungen rein verstandes- mäßiger
menschlicher Tätigkeit» bezeichnet. Anfangs unbeachtet oder abgelehnt,
zu Ende des vorigen Jahrhunderts zunehmend anerkannt und verwendet,
durch die Ent- deckung der Antinomien erneut erschüttert, ist die
Mengenlehre in ihrer heutigen axiomatisierten Gestalt eines der
Fundamente der Mathematik. Die Tatsache, daß alle mathematischen
Begriffe auf mengentheoretische Begriffe zurückgeführt werden können,
hat ei- nige Autoren sogar zu der Behauptung veranlaßt, die gesamte Ma-
thematik sei letztendlich mit der Mengenlehre identisch. Wenn uns
allerdings eine solche Ansicht als eine ungerechtfertigte Überbeto- nung
des Formalen gegenüber dem Inhaltlichen erscheint, so ist doch
unbestritten, daß die mengentheoretische Durchdringung der Mathematik
neben der Entstehung des strukturellen Denkens und der Verwendung der
axiomatischen Methode ein Wesenszug der mo- dernen Mathematik ist. Das
hat in zahlreichen Ländern bis in den Schulunterricht hinein gewirkt.