Die Gerda Henkel Vorlesungen des Jahres 1985 waren der Stadtgeschichte
ge- widmet. Im Mittelpunkt stand dabei die Bürgerstadt, nicht die
Residenzstadt. Die Bürgerstadt ist in der Tat eine klar umrissene
Erscheinung unserer Kultur- geschichte. Besonders bei der Stadt des
Mittelalters tritt dies hervor. Inmitten einer Gesellschaft, die durch
starke persönliche Abhängigkeiten, durch strenge Hier- archien
gekennzeichnet war, entstehen in den Städten, wie sie sich seit dem 10.
und 11. Jahrhundert bilden, beschworene Einungen von grundsätzlich
gleichberechtig- ten und freien Bürgern, die ihre Angelegenheiten selbst
in die Hand nehmen und eine rationale Verwaltung organisieren. Der
Geist, der sie beseelt hat, drückt sich vielleicht am deutlichsten in
einem Rechtssatz aus: "Stadtluft macht frei". Wenn jemand, der an sich
als Gutsuntertäniger, Leibeigener in einem feudalen Abhängig-
keitsverhältnis steht, Jahr und Tag unangefochten in einer Stadt gelebt
hat, so ist er seiner feudalen Lasten ledig; sein Herr kann sein Recht
gegen ihn nicht mehr geltend machen. In den stolzen Rathäusern, den
großen Bürgerkirchen der späten Gotik haben wir noch die Werke ihres
Gemeinsinnes vor uns. Es lag aber in der Natur der Sache, daß die erste
Vorlesung in einer solchen Reihe der griechischen Polis gewidmet sein
mußte, denn hier ist zuerst ein städtisches Bürgertum in Erscheinung
getreten, und die griechische Polis ist nicht nur das Ur- bild
städtischer Kultur; sie ist auch das Urbild unserer heutigen Staatsform,
der Demokratie. Professor Giovannini hat in den Mittelpunkt seines
Vortrages die Frage gestellt, in welchem Prozeß die griechische Polis
entstanden ist.