Im Laufe der letzten hundert Jahre sind immer hohere Ansprliche an die
Psycho- therapie von Neurotikern gestellt worden. Frliher begnligte man
sich damit, Be- schwerden und Symptome zu beseitigen oder "die
Krankheit" Neurose zu heilen. Damit sind wir nicht mehr zufrieden. Wir
mochten mehr: wir mochten die ganze Personlichkeit des Kranken reifen
und sich entwickeln lassen. Wir mochten den frlihe- ren Kranken mit der
GewiBheit aus der Psychotherapie entlassen, daB er seine Krafte nunmehr
frei entfalten kann und daB er - innerhalb der Grenzen, die ihm durch
die Natur gesetzt sind - ein lebensfroher und lebenstlichtiger Mensch
wird. Sind die Beschwerden des Kranken nicht qualend und schwer
behindernd, so rechtfertigt es sich ohne eine solche hohe Zielsetzung
kaum, dem Kranken die groBen Opfer an Geld, Zeit, innerer Spannung und
Arbeit an sich selbst zuzumuten, wie sie eine eingehende vieljahrige
Psychotherapie mit sich bringt. Sind wir aber wirklich imstande, mehr zu
tun als Symptome zu heilen? Konnen wir tiefer und dauerhafter in die
menschliche Entwicklung eingreifen? Wir sind dessen nicht sicher. Wir
sind versucht, auf Grund unserer Lebensbejahung und unseres thera-
peutischen Selbstvertrauens ja zu sagen oder umgekehrt aus
Kleinglaubigkeit und MiBmut bedenklich den Kopf zu schlitteln.