Jeder Psychiater spurt wohl ab und zu beim Umgang mit seinen Kranken und
ihren Angehorigen, daB er uber die Langstreckenverlaufe neurotischer
Storungen viel weniger Erfahrung und Wissen besitzt als uber die
prognostischen Tendenzen der endogenen Psychosen. Verschiedene Fragen
konnen sich ihm in diesem Zu- sammenhang stellen: Wie schwcr werden
gewisse Neurotiker in sozialer Beziehung im Laufe ihres Lebens durch ihr
Leiden beeintrachtigt ? Wie oft und bei welchen Kranken kommt es zur
chronis chen Arbeitsunfahigkeit? - 1st es haufig oder selten, daB sich
aus dem Bild einer Neurose eine endogene Psychose entwickelt? Wie
verhalten sich in dieser Beziehung die sog. "Grenzfalle" ? - Lassen sich
deutliche Unterschiede in den Verlaufstendenzen der verschiedenen
neurotischen Syndrome erkennen ? Wie steht es mit der Haufigkeit und der
Richtung der Syndromwandlungen und der Dbergange in korperliche
Krankheiten? - Welches ist der EinfluB der "pra- morbiden"
Personlichkeit und wie oft gelangt man anderseits zum Eindruck, daB das
"auBere" Lebensschicksal den Verlauf der Krankheit beeinfluBte? Wie
sehen die neurotischen Ausgangszustande ausi Gibt es "Spontanhei!ungen"
? - Welches ist die Bedeutung der Psychotherapie fur die langen Verlaufe
der Symptome und fur das innere Erleben der Kranken? Zweifellos konnen
solche Fragen von einem Einzelnen und in beschrankter Zeit nicht
erschopfend beantwortet werden. Immerhin schien es mir sinnvoll, durch
Zusammentragen der verstreuten Literatur und durch eigene
Nachuntersuchung ehemaliger neurotischer Kranker einer psychiatrischen
Poliklinik einen Beitrag zur empirischen Neurosenlehre zu liefern.