Seit Jahren, insbesondere seit ihrem Assoziierungsantrag von 1987, wird
"die Tiirkei auf dem Weg nach Europa" mit kritischer Aufmerksamkeit
verfolgt: Fiir die abwartende Distanz, mit der die EG-Mitgliedstaaten
diesen Prozess beobachten, diirften neben den okonomischen Aspekten und
Menschenrechtsfragen vor aIlem die auBerst difflzile Einschatzung des
tiirkischen Staates in seinem Verhiiltnis zum Islam und dessen Rolle als
geseUschaftlichem und zunehmend auch politischem Faktor verant- wortlich
sein. Seit 1928 ist die Tiirkische Republik ein "weltanschaulich
neutraler Staat" ohne Staatsreligion, wenngleich mit einer zu 98 Prozent
kulturell- religios vom Islam gepragten Bevolkerung. Der "Laizismus",
die Trennung von religiosen und "weltlichen" Belan- gen des Staates,
ziihlte seit Griindung der Republik durch Atatiirk zu den wichtigsten
Prinzipien der kemalistischen Staatsdoktrin, die die Transformation des
ehemaligen, iiberlebten Osmanischen Reiches zu ei- nem modernen
Nationalstaat westeuropiiischer Pragung gewiihrleisten soUte. Wenn auch
seither aIle tiirkischen Regierungen den Laizismus als po- litische
Handlungsmaxime anerkannten, so erfuhr der Begriff dennoch, insbesondere
nach dem Militarputsch von 1980, sehr unterschiedliche und z.T.
widerspriichliche inhaltliche Auslegungen. Verstand man ihn in der
Friihzeit der Republik noch als "Dominanz des Staates iiber die Re-
ligion und als Hauptfaktor im ModernisierungsprozeB", so steht dieser
Auffassung in den letzten J ahren eine Fiille von sogenannten "popular
en" Defmitionen des Laizismus (tiirk. "layiklik") gegeniiber, die in der
tiirki- schen Offentlichkeit lanciert werden. Diese re1ativieren die
rigorose ke- malistische Interpretation des Siikularismus oder laufen
ihr direkt zuwi- der.