Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten hatte kein
historisches Vorbild. Optimistische Einschätzungen zur Dauer des
Vereini- gungsprozesses, zu seinen wirtschaftlichen und sozialen Folgen
in Ost und West und zur Höhe und Verteilung der Vereinigungskosten
beherrschten die öffentliche Diskussion zu Beginn der 90er Jahre. Dabei
waren sich wohl alle politischen Akteure darin einig, daß niemand über
ein gesichertes "Rezept" zur Gestaltung des Einigungsprozesses verfügen
konnte. Die angesichts der historischen Neuartigkeit des Vorgangs
bestehende Politikunsicherheit wurde jedoch kaum thematisiert. Dies
hätte die öffentliche Unterstützung für den eingeschlagenen Weg
gefahrden können. Wohin die Reise gehen sollte, schien der großen
Mehrheit der politischen Akteure eine einfach zu beantwortende Frage. Zu
einem in naher Zukunft lie- gendem Zeitpunkt sollte eine Anpassung der
Lebensverhältnisse in Ost- deutschland an Westdeutschland erfolgt sein.
Die Einigungspolitik zielte dar- auf, den Geltungsbereich der
institutionellen Strukturen der alten Bundesre- publik auf
Ostdeutschland auszudehnen. Massive finanzielle Transfers soll- ten den
Umbau des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systems für eine
(kurze) Übergangszeit abfedern und unterstützen. Dieses Konzept stand im
Hintergrund auch vieler Forschungsaufträge zur Politikberatung und präg-
te den analytischen Blickwinkel vieler Untersuchungen.