1. Ende einer Ära: Die Sozialdemokratie vor neuen Herausforderungen Die
holzschnittartige Gegenüberstellung von Labour Party und SPD als Posi-
tiv- und Negativbeispiel sozialdemokratischer Erneuerung verkennt die
fun- damentale Herausforderung, der sich alle sozialdemokratischen
Parteien Eu- ropas (und Ozeaniens) und die liberalen Parteien
Nordamerikas gleicherma- ßen gegenübersehen: die Krise des
sozialdemokratischen Modells. Auch das Ausmaß der Hoffnungen, die in
Tony Blair gesetzt werden, erklärt sich ja nur aus dem steilen Absturz
der einstmals stolzen Labour Party in den letzten 20 Jahren. Die größte
Herausforderung betrifft den Verlust ideologischer Ge- wißheiten durch
die Schwächung von traditioneller Organisationskultur und
Organisationsweise (1) ebenso wie durch die Erschöpfung jener
Politikinhal- te, die in der Nachkriegszeit prägend für das
sozialdemokratische Politikver- ständnis waren (2). (1) Die
Sozialdemokratie stützte sich traditionell auf eine starke Bindung ih-
rer Mitglieder und Wähler an die Partei, die durch bestimmte soziale
Milieus und sozio-kulturelle Umfeldorganisationen aufrechterhalten und
reproduziert wurde. Gerade in der Zwischenkriegszeit war die
Sozialdemokratie Partei, soziale Bewegung und Lebensweise gleichermaßen,
auf der Betriebsebene und im Ortsverein konstituiert, aber in alle
Sphären proletarischer Existenz hineinreichend - eben nicht nur in die
Arbeitswelt, sondern ebenso in die Wohnviertel, die Freizeitaktivitäten
und die Bildungsinstitutionen. Ein dich- tes organisatorisches Netzwerk,
zusammengehalten durch eine allgemein gültige Solidaritätsnorm, erschien
der Sozialdemokratie als notwendige Überlebensstrategie in einer
feindlichen kapitalistischen Welt und als partiel- le Vorwegnahme jener
utopischen sozialistischen Gesellschaft, die insgesamt angestrebt wurde.