Essay aus dem Jahr 1998 im Fachbereich Orientalistik / Sinologie -
Chinesisch / China, Sprache: Deutsch, Abstract: Ein grundlegender
politischer Leitgedanke Chinas war stets die Schaffung und Bewahrung des
Einheitsstaates, und zwar bei den meisten der diversen Reichsbildungen
auf dem Boden des Reichs der Mitte, gleich ob sie nach- oder
nebeneinander existierten. Dies bildet eine wesentliche Grundlage für
den chinesischen Anspruch, dass Tibet ein Teil Chinas sei. Der Blick
dabei ist rückwärtsgewandt, der Anspruch fußt in der Geschichte. Das
selbe trifft für den (exil-) tibetischen Anspruch auf Unabhängigkeit zu,
der eben diese Geschichte als Zeugin für die Selbständigkeit aufruft.
Die Diskussion darüber, ob, wann und wie Tibet zu China gehört habe oder
nicht, verschließt dagegen die Augen vor unserem heutigen Anspruch, dass
die Zugehörigkeit zu Staaten nicht mehr (allein) auf
Geschichtsbetrachtungen basieren sollte. Dennoch bleibt zu sagen, dass
vielen Streitpunkten zwischen dem Westen und Osten völlig
unterschiedliche Staatsauffassungen zugrunde liegen, die sich im
Wesentlichen am Unterschied zwischen National- und Nationalitätenstaat
festmachen lassen. Das Phänomen divergierender Kräfte ist als eine alte
Konstante in der historischen Entwicklung des Reichs der Mitte
anzusehen, und so birgt jede Tendenz zur "Abnabelung" Ansätze zur
neuerlichen Zersplitterung Chinas. Dies macht die Herrschenden so
empfindlich bei nationalistischen Fragen. Die Frage aber, wie China in
der Vergangenheit seine Identität als Vielvölkerreich gefunden hat, wird
in unserer Öffentlichkeit nicht gestellt. Chinas Versuche, eine solche
Identität als multiethnisches Land zu bewahren, werden daher häufig als
imperialistische Expansionsbestrebungen gedeutet. Die unterschiedlichen
Staatsauffassungen in China (sowie in Tibet) und im Westen bedürfen der
Erläuterung, um statt dem fehlenden gegenseitigen Verständnis für ihre
einst völlig gegensätzlichen Staatskonzepte ein Überdenken verhärteter
Posit