In der fruhen Kaiserzeit, in der selbst das Toten asthetisch uberformt
ist, sind die Grenzen zwischen Kunst und Lebenswelt nur schwer zu
ziehen. Welche poetischen Strategien muss ein Dichter einsetzen, um sein
Kunstwerk in einem solchen Umfeld als ein Kunstwerk auszuweisen, und wie
kann er dem Zuschauer die Sicherheit vermitteln, dass er ein Kunstwerk
vor sich hat und das "Vergnugen am Schrecklichen" legitim ist? Die
Tragodien des Dichters, Philosophen und Politikers Seneca sind beruhmt
fur ihre exzessiven Darstellungen physischer Gewalt. Sein Zugestandnis
an die zeitgenossischen Sehgewohnheiten verbindet Seneca jedoch mit der
Entfaltung eines Spektrums an Gewaltszenarien, die den Intellekt, die
Imaginationskraft und die Souveranitat des Zuschauers in einem hohen
Masse herausfordern. Auf diese Weise wird es dem Zuschauer ermoglicht,
die Betrachtung physischer Gewaltakte zu reflektieren, sich als
Zuschauer seiner Rolle als Zuschauer bewusst zu werden und die fragile
Grenze zwischen Buhnenraum und Wirklichkeit wieder herzustellen.